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7.11.2022

„Mentale Gesundheit im Ehrenamt“ Interview mit Christoph Seipp

Niemand ist immun gegen psychische Belastungen und Erkrankungen. Und ehrenamtlich Engagierte sind davon ganz sicher nicht ausgenommen, weiß Christoph Seipp.

Niemand ist immun gegen psychische Belastungen und Erkrankungen. Und ehrenamtlich Engagierte sind davon ganz sicher nicht ausgenommen, weiß Christoph Seipp. Als Coach für Unternehmerinnen und Unternehmer vermittelt er seinen Klientinnen und Klienten, wie wichtig es ist Freiheit, Sinn und Freude zu empfinden, um körperlich und seelisch gesund zu bleiben. Gleichzeitig ist Seipp ehrenamtlich als Vize-Präsident des „Round Table 94 Gießen“ tätig und kennt die Risiken, die ehrenamtliches Engagement mit sich bringen können. Wir haben mit ihm darüber gesprochen.

Wie wirkt sich ehrenamtliches Engagement auf die (mentale) Gesundheit aus?

Ganz grundsätzlich würde ich sagen, dass (psychische) Gesundheit in jedem Moment auch von uns selbst erzeugt wird und wir damit Einfluss darauf haben.

Hierbei orientiere ich mich am Modell der „Salutogenese“ nach Aaron Antonovsky. Dieses Modell hilft zu beantworten, wie Gesundheit entsteht, wie Menschen trotz Risiken gesund bleiben können und wie in der Praxis ihre Gesundheit gefördert werden kann. Gesundheit erzeugende Faktoren, sog. Salutogene, erleben wir, wenn wir unsere Welt verstehbar, handhabbar und sinnvoll erleben.

Sinn wird im Ehrenamt oft stark erlebt, weil man ja etwas Gutes tut, bzw. etwas verwirklicht, woran man großes Interesse hat. Gleichzeitig empfinden besonders engagierte Menschen Belastung, weil sie sich zu viel zumuten und somit die Handhabbarkeit Ihres Tuns gefährden. Daraus entsteht Überforderung, und die Betroffenen brennen aus, weil mehr Aufgaben und Verantwortung auf ihnen lasten, als sie tragen können. Und ganz ehrlich, dazu neigen wir im Ehrenamt noch mehr als im Job. Wir nehmen Überforderung in Kauf, weil es für die „gute Sache“ ist und verdrängen das Bedürfnis auch mal „Nein“ zu sagen, weil uns das schlechte Gewissen plagt.

Wie macht sich seelisches Ungleichgewicht bemerkbar?

Die psychologische Psychotherapeutin Elena Hitzel, die bei einem von unserem Verein organisierten Themenabend „Mentale Gesundheit im Ehrenamt“ als Referentin auftrat, listete einige markante Hinweise für psychische Belastung auf:

  • Schlafprobleme
  • Verdauungsprobleme
  • Reizbarkeit
  • häufiges Weinen
  • Kopfschmerzen

Für Kopfweh oder Verdauungsprobleme kann es ja auch andere Ursachen geben. Wie kann unterschieden werden, ob es der Wetterumschwung oder zu hohe Belastung ist, was Schwierigkeiten macht?

Der Physiotherapeut Constantin Ross empfahl in seinem Vortrag auf unserem Themenabend, dass man am besten täglich in sich hineinspürt und sich ganz ehrlich fragt: “Wie geht es mir gerade wirklich?“

Dieses entschiedene sich Zeit nehmen macht es möglich, psychische und körperliche Signale wirklich wahr- und ernst zu nehmen. Dann hören wir unserer Seele zu, wenn sie entweder mit Gefühlen oder körperlichen Signalen kommuniziert. Hören wir nicht zu, bilden sich Störungen und im schlimmsten Fall rutschen wir in Krisen.

Was raten Sie, wenn die Antwort lautet: „In Wirklichkeit geht es mir nicht gut mit der Situation.“?

Stelle ich fest, dass es mir tatsächlich nicht gut geht, erkenne ich, dass eine Grenze überschritten ist. Und hier zitiere ich gern nochmal die bereits erwähnte Elena Hitzel: „Kennen Sie Ihre Grenzen und halten Sie sich daran!“

Vielen Engagierten fällt es schwer, Nein zu sagen, um die eigenen Grenzen einzuhalten.

Gerade im Ehrenamt ist es nicht immer einfach, Nein zu sagen. Hier gilt aber das Motto: „Nur wer mental gesund bleibt, kann anderen auf Dauer eine Hilfe sein.“

Wer für sich selbst formulieren kann, dass niemandem geholfen ist, wenn man wochen-, monatelang oder gar für immer gesundheitlich ausfällt, weil eigene Grenzen jahrelang übergangen wurden und dadurch selbst bedürftig wird, hat einen großen Schritt nach vorn gemacht.

Außerdem darf jeder Mensch „Nein“ sagen und danach einen Punkt setzen. Eine Rechtfertigung ist nicht notwendig. Soll das Nein doch noch begründet werden, dann darf das auch ganz deutlich ausfallen, wie bspw. „…, weil ich dieses Mal keine Kraft/Zeit/Lust habe.“

Aber auch Sätze wie „Ich weiß, wie wichtig dieses Projekt ist, aber meine Gesundheit ist genauso wichtig. Darum setze ich dieses Mal aus.“ Oder „Können wir den Termin um ein paar Tage verschieben oder sogar ganz ausfallen lassen?“

Am Ende ist es für alle besser, wenn die Reißleine rechtzeitig gezogen wird, anstatt alles auf Biegen und Brechen durchzuziehen.

Jede Person ist in erster Linie für sich verantwortlich. Aber können nicht auch im Verein Maßnahmen ergriffen werden, um die mentale Gesundheit der Mitglieder zu stärken?

Hierzu fallen mir spontan zwei Dinge ein.

  • Weiterbildung zum Ersthelfer für psychische Gesundheit. Unter „MHFA-ersthelfer.de“ gibt es Kursangebote sowie Informationen rund um das ganze Themenfeld. Das Konzept dieser Erste-Hilfe-Kurse für die Psyche wurde vor über 20 Jahren in Australien entwickelt und den Kursteilnehmern werden Grundlagen zu psychischen Störungen wie bspw. Depression, Ängste, Suchtverhalten vermittelt und welche Hilfe im akuten Fall geleistet werden kann, bspw. bei Panikattacken. Ganz wichtig ist hierbei, dass diese Erste-Hilfe Maßnahmen kein Therapieersatz sind. Vielmehr handelt es sich um eine Art Starthilfe, damit sich Betroffene in professionelle Hilfe holen.
  • Bewusst Raum für Persönliches schaffen. Bei uns im Verein haben wir in jedem Meeting den Punkt „Die persönlichen 5 Minuten“ auf der Agenda. Der wird nie gelöscht oder übergangen. In diesen persönlichen fünf Minuten haben alle die Chance, aber keinesfalls die Pflicht, mitzuteilen, was sie persönlich gerade bewegt. Und dauert es mal länger als fünf Minuten, ist das okay, weil wir uns bewusst sind, dass sich nur mental Gesunde dauerhaft engagieren können. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dieses Ritual allen hilft, sich zu öffnen und mitzuteilen.

An wen können sich Menschen wenden, wenn sie feststellen, dass sie selbst oder ein Vereinskollege, eine Vereinskollegin in eine akute Situation geraten?

Zögern Sie nicht, in ganz akuten Krisensituationen die 112 zu wählen. Im Zweifel geht es hier um Leben und Tod. Alternativ kann der ärztliche Bereitschaftsdienst unter 116 117 erreicht werden. Wer für sich selbst Hilfe sucht, sollte als erstes einen Termin beim Hausarzt vereinbaren oder sich an den sozialpsychiatrischen Dienst im Landkreis wenden. Dort finden auch Angehörige Hilfe.

Ihre Erfahrungen sind gefragt!

Teilen Sie Ihre Erfahrungen und Tipps auf der Seite „Was ist nützlich für mentale Gesundheit im Ehrenamt„.
Die Umfrageergebnisse auf der Webseite als kollegiale Hilfe zur Selbsthilfe veröffentlicht.

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